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Stefan Schwetje


Premium (World), Braunschweig

Der Herbst...

...kam. Nachmittags regnete und schneite es. Es war eine durchdringende nasse Kälte. Die Kommandos kamen in das Lager zurück. Die Häftlinge, ganz durchnässt und steif vor Kälte, angezogen lediglich mit dunklen Drillichanzügen, barfuß oder in schweren Holzpantinen, wateten ungleichmäßig durch den Matsch und reagierten überhaupt nicht auf die Schreie der Kapos: Links, Links.
Sie stützten sich gegenseitig, die Stärkeren trugen die Bewußtlosen, die Steifgewordenen, die Verstorbenen oder während des Tages Getöteten. Auf dem großen Platz richtete man sich zum Appell aus. Tausende von Häftlingen froren langsam in dem wütenden Schneegestöber ein. Man sah, dass es sich um eine richtige Todesernte handelte.
"Alle Pfleger antreten" befahl Bock. Der Krankenbau bereitete sich auf die Aufnahme der Kranken vor, die man zu Hunderten erwartete. Peter wies mich dem Pförtner, der die Blocktür hütete, zur Hilfe ein.
Der Appell war beendet. Schon waren sie da. Zuerst waren es die Kräftigsten, welche die anderen, die wirklich sofortige Hilfe benötigten, überholten. Die Tür war geschlossen. Sie stürmten dagegen an. Damit sie die Tür nicht einschlugen, hielten wir sie zu mehreren mit ganzer Kraft zu.
Der kleine Blockälteste stieß uns energisch von der Tür weg, danach stürmte er selbst schlagend und schreiend in die brodelnde Menge hinein, wir hinter ihm her. Nach einer Weile gab es einigermaßen Ordnung. Das Vorrecht hatten die Schwächsten, solche, die sich kaum auf den Füßen halten konnten, solche, die bereits im Schlamm lagen und manchmal kein Lebenszeichen mehr von sich gaben.
Wir trugen sie auf den Block und legten sie auf den Korridor, einen neben den anderen. Jetzt halfen uns diejenigen, die als erste die Tür des Blocks stürmten. Das war aber eine List. Nachdem sie die Kranken hineingetragen hatten, warfen sie sie irgendwohin und füllten das Ambulatorium vollständig aus, so dass irgendeine Tätigkeit der Ärzte und Pfleger unmöglich war.
Bock wurde wütend. Peter intervernierte noch einmal. Mit Gewalt stießen wir alle aus dem Block. Dort stellten wir sie endlich in eine Schlange, Dutzende von Neuen lagen bereits vor dem Block. Bevor es uns gelang, sie hineinzutragen, fiel bereits die Hälfte der Stehenden ohnmächtig in den Dreck.
Es waren soviel Kranke, dass die Ärzte keine Zeit hatten, sie genau zu untersuchen. Die Leichenträger brachten die Verstorbenen durch eine andere Tür vor den Block, die noch Lebenden trugen wir in den Waschraum. Hier mußten wir jeden entkleiden. Es war schwer, die nassen Lumpen von den bewegungslosen, mit Geschwüren übersäten, mit Kot beschmierten Skeletten zu ziehen.
Kieliszek schrieb dann mit dem Bleistift jedem seine Nummer auf die Brust, die Friseure schoren die behaarten Stellen ab, Kempa desinfizierte diese Stellen mit "Cuprex", danach legte man sie auf einen Rost vor die Dusche und betropfte sie mit kaltem Wasser, statt sie zu baden.
Jetzt erst durften sie von den Stubendiensten in ihre Stuben gebracht werden. Ein Teil wurde nach oben gebracht, da sie Lungenentzündung hatten, die meisten blieben unten, wo man sie in der Stube der Durchfälle nebeneinander auf Strohsäcke legte, die auf den Bodenbrettern lagen. Hier bekamen sie Kohle oder "Bolus Alba" und spülten es mit Kräutertee oder mit dem "Sommerkaffee" hinunter.
An jenem Abend hatten die Leichenträger eine außergewöhnliche Ernte. Sie hatten die zusätzliche Schwierigkeit, die Nummern zu entziffern, die verwischt oder gar fehlerhaft vorher auf die Brust der Toten geschrieben waren, um sie in das Totenbuch einzuschreiben. Am nächsten Morgen mußte der Appell doch stimmen !!!!

(Quelle: Der Spiegel Nr. 6 vom 05. Februar 1979 - sechsteilige Spiegel Serie: Vernichtungslager Auschwitz. Häftling Nr. 290 berichtet)
Bevor Wieslaw Kielar´s Buch: Anus Mundi - Fünf Jahre Auschwitz erstmals in deutscher Sprache erschien, gab es im Frühjahr 1979 sozusagen eine sechsteilige Vorveröffentlichung.

Unterwegs in Auschwitz-Birkenau mit meinem Freund Joachim Irelandeddie

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