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Julian Tritschler


Free Account, Berlin

Morgenstunde

Grau und blau getürmtes Schattenland
Ruht mit zackigem Gebirgesrand
Dunkelhart vor lichtem Himmelsgrün,
Ruht so ernst, so würdig, ruht so kühn
Wie ein Krieger nach bestandener Schlacht.
Wald und Schluchten hangen tief voll Nacht,
Schläfrig dämmern Dörfer, niedrig, mager,
Schafen gleich auf harter Heide Lager,
Tausendjährig, greis, doch kinderjung
In des alten Bergs Erinnerung,
Der sie gestern erst erbaun gesehen,
Er, den einst das wilde Erdenweib
Glühend stieß aus schmerzgekrümmtem Leib,
Ehe Wälder, Schluchten, Dörfer waren.
Alles weiß er, der so viel erfahren,
Listig blinzelt er aus scharfer Scharte,
Das Vergehn und Tod auch ihn erwarte,
Das zu spüren noch nicht steif und kalt genug,
Das zu denken noch nicht reif und alt genug,
Gähnend reckt er sich dem Licht entgegen,
Das den Himmel satt und satter tränkt,
Tief in seinen Schattenklüften regen
Sich die Wasser, die er seewärts lenkt.
Gipfel trägt und Grat er schneebedeckt,
Doch von Felsenstürzen grau gefleckt,
Sie erwarten schweigend und getrosten
Mutes ihren Morgenruf aus Osten.
Und der Ruf erdröhnt: lautlos, nur Licht!
Auf der höchsten Firnenkante bricht
Feuerfarbene Glut aus wie von innen,
Es erglühn, erstrahlen alle Zinnen
Rot und golden, königlich entfacht.
Aufhorcht froh erschrocken und erwacht
Berg und Tal und See. Der Traum zerrinnt,
Der sie niederhielt. Der Tag beginnt.

Hermann Hesse

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