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R A S C H


Free Account, aus der Provinz

Ständchen

Prag. Oktober 2007.

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Ständchen


In den Kurven spielen
Straßenbahnen Geige.

Ach, so mancher denkt da
Seiner Freundin oder

Träumt von kommenden Dingen.
Aber die meisten klagen

Und nennen es ohrenbetäubenden Lärm,
Oder gehen achtlos daran vorüber,

Ganz einfach, weil sie wie so oft
Die Feier im Alltag nicht sehen.

Der wer die Seitenstraße langgeht, kann ja,
Sucht er die Eintrittskarte

In der Manteltasche, auch
Das Konzert der Fahrzeuge da schon hören,

Falls er keine Zeit mehr hat,
Die musische Stätte direkt aufzusuchen.

[Uwe Greßmann]

***

VK Ingeborg Weber
Cainsdorf
Wehrweg 12
16.2.63

Liebes Neues Deutschland!

Ich möchte Dir eine kleine Einschätzung über das Gedicht von Uwe Greßmann „Ständchen“ erschienen in der Beilage „Die gebildete Nation“ vom 2.2.63 geben.
Es gehören schon sehr starke Nerven dazu, das Gekreische der Straßenbahn an den Kurven als Geigenklänge zu bezeichnen. Ich halte mir bei solchem Krach die Ohren zu, denke an die armen Menschen, die an diesen Ecken wohnen und diesem Krach täglich des öfteren ausgesetzt sind, und an die Kinder, die in ihrem Schlaf geweckt werden, und verwünsche das Gekreische. Träumen kann man dabei auch nicht. Ich weiß nicht, was sich der Schriftsteller für Vorstellungen gemacht hat, aber bestimmt nicht solche, die einen Arbeiter bewegen. Wenn das Gekreische der Straßenbahnen Geigenmusik ist, dann frage ich mich, was ist dann die Musik von Johann Strauß, um nur einen Komponisten zu nennen.
...
Ich habe mit mehreren schreibenden Arbeitern und anderen Kumpeln unseres Werkes darüber gesprochen, und sie finden dieses Gedicht auch nicht nach ihrem Geschmack. Die Feier im Alltag liegt nicht im Gekreisch der Straßenbahnen in den Kurven, da gibt es viel schönere Dinge.

Mit sozialistischem Gruß!

VK Ingeborg Weber
VEB Steinkohlenwerk
Martin Hoop Zwickau

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