Matthias von Schramm


Premium (World), Hamburg

Die richtige Fehlannahme

Mein Gefühl sagt mir, dass wir uns im Büro gegenüber sitzen. Dazwischen ausladende Bildschirme, Familienbilder, fliegende Handzettel und bunte Aufkleber. In Wahrheit liegen wir auf dem Küchentisch und kauen eine Pizza nackt. Wir öffnen den Büstenhalter und deine Tochter flegelt sich mit gespreiztem Oberlippenbart auf der Couch und liest in ihrem Vlog, ohne dass da ein Wort geschrieben steht. Ich beiße in deine boneaged Schulter und rauche digital.

Ich sehe aber nie deinen Rücken, immer nur die Haare deines Gesichts. Seltsam ist das, auch wenn wir so sprechen, als ginge es um Geschäftsbeziehungen.

Geschäftsbeziehungen!?

Was für ein unmöglich totes Wort. Dabei weiß ich wie deine Sprachmassage sich anfühlt. Ich kenne deine Mundtemperatur. Ich kenne die Musik deiner Tochter. Kinder sind irgendwie etwas Schönes. Sie stören garantiert im richtigen Moment und sind eine zuverlässige Größe und man vergeht vor Sorgen. Egal was sie immer auch ohne verständlichen Anlass tun. Dass du Kinder hast ist deshalb einfach wundervoll. Einfach wie eine Ausschmückung deiner Hülle. Wie ein warmes weiches Alltagskleid. Wir platzen aus allen Nähten. Das Kind hat ja keinen Hunger. Wir müssen immer alleine essen. Immer alles bis zum letzten Krümel, weil wir so erzogen wurden. Ich trage immer Turnschuhe auf deinem Küchentisch. Ist dir das schon mal aufgefallen? Da ist dieser Fluchtreflex vor der Verpflichtung. Wenn deine Tochter mich bittet, dass ich ihr einen Zopf flechten soll, dann bin ich raus. Das halte ich nicht aus. Erst einmal geht das bei diesen Haaren gar nicht und zweitens: was will sie von mir?

Aber sie will ja gar keinen Zopf. Jedoch tätowieren kann ich auch nicht. Nicht einmal eine Schlange um den Hals legen, oder was Mädchen in diesem Alter so wollen. Den Oberlippenbart hat sie übrigens ihrem türkischen Mitschüler geklaut. Weil jung Vielmann, deshalb Frühbart. Ich male mir manchmal aus, wir hätten uns auf andere Weise kennengelernt. Z.B. auf dem Hamburger Dom. Ich gehe da zwar nie hin, aber manchmal habe ich einen Nebenjob dort als Befrager vom HVV. Ich frage dann die Leute, mit welchem Verkehrsmittel sie am liebsten linientreu wären. Lustig, nicht?

Deine Tochter, die uns beide um Hauptes Länge überragt ist so dünn, dass sie sich gut zwischen den Sonnenblumen im Garten verstecken könnte, wenn da nicht diese Haare wären. Und die sind auch immer überall diese Haare. Ich bade immer drei Mal anschließend, wenn deine Tochter da war. Andere haben halt eine Katzenallergie.
Wir sitzen uns wirklich im Büro gegenüber – scheint mir.

Bitte, lass es so sein!

31. Juli 2016

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