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Die zarte Knospe

Es ist nicht leicht, als kleine Blume unter den Menschen zu überleben.

Ich hatte es recht schwer in meinem bisherigen Leben.



Einst pflückte mich ein Mann

- ich war noch ganz Knospe und verschlossen -

steckte mich, bei sich zu Hause, in eine Vase, stellte mich auf den Schreibtisch

und wartete auf mein Erblühen.

Es währte nicht lange und schon entfaltete ich meine Blüten.

Ich öffnete mich ihm in meiner ganzen Schönheit.

Ich gefiel ihm wohl, denn er kümmerte sich rührend um mich.



An einem Sonntagmorgen besuchte ihn dann seine Freundin.

Sie sah mich, nahm mich aus der Vase, betrachtete mich und fing an,

mir die Blütenblätter einzeln auszureißen.

Ich schrie, doch sie hörte mich nicht.

Sie sprach:

Er liebt mich - er liebt mich nicht - und so fort.

Bald hatte ich keine Blütenblätter mehr und sie warf mich in den Papierkorb.

Ihre letzten Worte waren:

Er liebt mich!

Ich kehrte wieder, schließlich hatte ich ja noch eine Wurzel, welche in der Erde verborgen war.

Es ward Frühling und ich genoss die ersten Sonnenstrahlen.

Würde ich wohl dieses Jahr an einen lieberen Menschen geraten?

Es schien so.

Ein Jüngling spazierte an mir vorbei, machte Halt und kehrte zu mir zurück.

Er kniete nieder und betrachtete mich verträumt.

Dann streichelte er meine Blätter und verabschiedete sich mit den Worten:

Ich komme wieder, warte auf mich!

- Ich wartete und in der Zwischenzeit zersprang meine Knospe und ich erblühte. -

Eines Tages war er dann wieder bei mir.

Er setzte sich und bewunderte meine Schönheit.

Er liebkoste meine Blüte und meine Blätter

und ich war die glücklichste Blume auf der ganzen Wiese.



Dann folgte ein sehr heißer Sommer.

Ich war kurz vor dem Verdursten, da besuchte er mich wieder und gab mir zu trinken.

Wie konnte ich ihm nur danken?

Ich, kleine Blume - neben diesem großen Menschen?

So versprach ich ihm, mich im nächsten Jahr wieder mit aller Kraft zu öffnen

und sein Herz zu bereichern.

Er nickte mit dem Kopf und ein glückliches Lächeln zog sich über sein Gesicht.

Er hatte mich verstanden.

Es gab doch noch Menschen auf dieser Erde,

welche eine kleine Blume wie mich verstehen konnten.



So blühte ich noch in voller Schönheit die ganze Zeit,

welche mir geblieben war und wartete auf den nächsten Frühling.

Da ward der Winter kurz,

denn wenn man weiß, dass ein lieber Mensch auf einen wartet,

fällt das Leben leicht.

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