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Unterwegs ins Ungewisse...

Unterwegs ins Ungewisse...

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Stefan Schwetje


Premium (World), Braunschweig

Unterwegs ins Ungewisse...

Es war der 23. Oktober 1944...
Wenige Stunden nachdem wir Bozen verlassen hatten, kamen wir auf Deutsches Gebiet. Das Licht im Waggon ist spärlich, manchmal wird die Luft zum Schneiden dick. Wir haben so wenig Platz, dass wir uns kaum bewegen können. Nur mit Mühe tauschen wir die Plätze, damit sich jeder einmal setzen kann. Wir wissen nicht, wo sie uns hinbringen. Das Schicksal das uns dort erwartet, kennen wir zwar nicht, doch die Illusion und Hoffnung haben wir begraben.
Fast ständig bricht irgendwer in Tränen aus, die Luft ist verpestet. In dieser schrecklichen Gefängniszelle auf Rädern gibt es nicht einmal einen Eimer für die Notdurft. Mama schluchzt ständig vor sich hin. Am Nachmittag des dritten Tages bleibt unser Konvoi stehen. Aus dem Waggon der Männer hören wir einen verzweifelten Chor: "Wasser ! Wasser !" Ein deutscher Wachsoldat schiebt die Tür unseres Waggons zur Seite, deutet auf ein paar von uns und befiehlt ihnen auszusteigen. Mein Knöchel schmerzt sehr, doch ich kann nicht wiederstehen und steige ebenfalls aus. Wir stehen inmitten einer Ebene unter bleigrauem Himmel. Eisige Windboen wehen uns an. Ein kleines verlassenes Bahnwärterhäuschen und daneben ein kleiner Brunnen an der Wand....
Wir steigen wieder ein und der Konvoi setzt sich erneut in Bewegung. Mein Leben ist ein Fluss, der sich immer weiter von mir entfernt, der, eingehüllt in schwere Nebelschwaden, immer undeutlicher zu erkennen ist.
Durch den Schlitz oben im Waggon dringen Finsternis und Kälte, wenn der Tross wieder einmal stehen bleibt.
Plötzlich sind draussen laute Rufe und Pfiffe zu hören. Tausend Hunde scheinen sich anzukläffen. Die Türen der Waggons werden aufgerissen. Lichter blenden uns. Soldaten in grauen und schwarzen Uniformen schreien uns unverständliche Worte zu. Zu Tode erschrocken springen wir auf. Ein großer Lastwagen fährt rückwärts auf den Waggon zu. Als er stehen bleibt, vervielfachen sich die unübersetzbaren Befehle noch. Ein Brett wird zwischen die Tür des Waggons und den Lastwagen geworfen. Ein Soldat befiehlt einer Frau, auf den Lastwagen zu steigen. Bevor die Plane des Lastwagens herabgelassen wird, kann ich, während ich mich mit schmerzendem Knöchel über das Brett schleppe, meinen Blick über den Ort schweifen lassen, an dem wir gelandet sind.
Bilder, nur einen Sekundenbruchteil lang. Bilder für die Ewigkeit. Ein Meer aus Schlamm, eine Ebene aus Schlamm. Ein eisiger, dunkler, schlammiger Wahnsinn. Ich bin nun in einer Dimension, stelle ich fest, in der es nichts Menschliches mehr gibt, die allem Menschlichen völlig feindlich gesinnt ist. Darüber, als würde sie im Himmel brennen, eine kleine Flamme, die in der Ferne das Dunkel durchbricht und die ich noch nicht deuten kann.

(Quelle: Piera Sonnino "Die Nacht von Auschwitz" - Das schicksal einer italienischen Familie)

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