Violas Geheimnis

Violas Mutter hatte nie darüber gesprochen, aber hinter dem Rücken tuschelten die Bewohner des verschlafenen Dorfes wohl über das junge Mädchen, das immer so seltsam verträumt wirkte, stets lächelte und sanftmütig alles ertrug, was das Schicksal bereit hielt.

Niemand wusste wirklich, wer Violas Vater war, aber die Spekulationen schlugen hohe Wellen, denn die Feste auf dem Land waren wild gewesen damals, und nach dem Genuss von etlichen Gläsern Pils und noch mehr Fleischhauern sah man nicht mehr so genau auf das, was man tat. Niemand hatte aber die Verantwortung übernehmen wollen, und im Übrigen wäre auch einer der Hotelgäste als Kindsvater in Frage gekommen. Wer wusste das schon so genau?

An einem sonnigen Frühlingstag gebar die Küchenhilfe des Landhotels die kleine Viola, gerade als die ersten Stiefmütterchen lieblich ihre bunten Köpfchen ins Sonnenlicht streckten. Als die Mutter früh verstarb, blieb das Mädchen im Haus und nahm alsbald deren Platz im Hotelbetrieb ein. Viola war immer und zu jedermann freundlich, sprach jedoch wenig und nutzte die knappe Freizeit, um im Schatten der mächtigen Kastanie vor dem Haus Bücher zu lesen, die sie sich in der Pfarrbücherei lieh.

Viola liest
Viola liest
I nimmermehr l

Niemand hätte der jungen Frau zugetraut, dass unter der sanften Schale ein Vulkan schlummerte, und keiner wusste, was sie an den freien Tagen wirklich tat, wenn jedermann dachte, sie nähme den Morgenbus in die Kreisstadt, um dort Besorgungen zu machen oder eine der wenigen Freundinnen zu besuchen, die sie hatte.

Viola selbst war sich dessen, was sie tat, sehr wohl bewusst. Vielleicht hatte sie anfangs Zweifel gehabt, aber inzwischen genoss sie das, was sie ihr „zweites Leben“ nannte, mit allen Empfindungen,
deren ihr fülliger Körper fähig war.
Sie sah es als Fingerzeig des Himmels, dass sie an diesem Morgen vor nun fast zwei Jahren für das Zimmermädchen eingesprungen und beim Herrichten von Zimmer 18 in ihrer Ungeschicklichkeit den Koffer des Handelsvertreters zu Boden geworfen hatte. Gerade, als sie die feinen Wäschestücke aufsammelte, die sich fließend in den Raum ergossen, trat der Herr in seinem fahlgrauen Zwirn herein, und als sich über einem blass cremefarbenen Mieder ihre Blicke trafen, entging dem Geschäftsmann nicht der Glanz in Violas Augen, der sich sanft über ihr Gesicht zu legen schien und ihm das Aussehen eines reifen Pfirsichs verlieh.

Es fielen kaum Worte, denn das war nicht des Mädchens Art. Doch es blieb auch nicht beim verschämten Anprobieren, wann immer der Hausgast mit einer neuen Kollektion zugegen war. Viola ließ sich mit der Zeit dazu überreden, Aufnahmen in den kostbaren Wäschestücken machen zu lassen, mit denen für die ausgefallenen Modelle in einem Katalog sowie auf einer Internetseite geworben wurde. Den Fototerminen fieberte Viola stets entgegen, denn nach Entdeckung der neuen Seite ihres Wesens, drängte es sie, diese auszuleben … und in letzter Zeit genoss sie es zuweilen, unter ihrem züchtigen Blümchenkleid heimlich die flammrote Wäsche nebst Strumpfgürtel zu tragen, die ihr so besonders gut gefallen und ihr seltsam fremde Blicke des Fotografen eingetragen hatte, die das Mädchen schon beim schieren Gedanken daran in helle Aufregung versetzten.

Weder sprach Viola über das in ihren Augen sündige, doch äußerst anregende Geheimnis, noch beichtete sie es dem verschrobenen Dorfpfarrer. Sie lächelte nur in sich hinein, genoss still und schob alles auf den Vater, den sie nie gekannt hatte. Von ihrer Mutter hatte sie das sicher nicht geerbt …
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Ich „klebe“ das Bild nun in das Foto-Geschichten-Buch
Mona Lisas Foto-Geschichten-Buch
Mona Lisas Foto-Geschichten-Buch
MONA LISA .

Wer sich dazu äußern möchte, kann das gerne hier (oder auch dort unter dem Bild) tun.
Vielen Dank für das Interesse!
:-)
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Die Skulptur ist Teil der Ausstellung "Alltagsmenschen" von Christel Lechner, die es den Sommer über in verschiedenen Städten zu sehen gibt.

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